Osnabrück, 26. Oktober. Ich stehe auf dem Bahnsteig und warte auf den IC. Ich hätte auch die Regionalbahn nehmen können. Sie fuhr vor wenigen Minuten los, wäre schneller gewesen. Aber wenn ich die Wahl habe, warte ich lieber noch ein wenig und steige in den InterCity. Früher war der InterCity ein InterRegio, eine bessere Regionalbahn, aber dann hat die Bahn die Sitze ausgetauscht und ein bißchen Farbe aufgetragen und der alten Dame einen neuen Namen gegeben. Jetzt heißt er eben IC, ist ein paar Euro teurer und hält nicht mehr an jeden Kuhstall.
Es sind aber sicher nicht die klasse Sitze, der umwerfende Komfort oder das Bord Restaurant, was mich davon abhält, die Regionalbahn zu nehmen. Es sind vor allem die Fahrgäste.

Im IC oder im ICE, also im Fernverkehr, hat man das Gefühl auf Reisen zu sein, ein kleiner Marco Polo, also der nach dem der Klamottenladen benannt wurde, und mit einem reisen andere Menschen. Sie lesen, schlafen, trinken Kaffee oder Bier. Ihre großen Koffer und Reisetaschen tragen Namensschilder, damit sie später im Flughafen nicht verloren gehen, im richtigen Flieger, auf dem richtigen Schiff landen. Auf Reisen muss man sich vorbereiten, der Koffer ist schnell mal weg. Man ist auf dem Weg in den Urlaub in den Schwarzwald, zur Verwandtschaft nach Süddeutschland, zu den Kindern, die im Osten studieren oder arbeiten, auf dem Weg in die Ferien ans Meer oder in die Berge. Und schon die Fahrt ist ein Teil der Ferien. Kein lautes Geschrei ist zu hören, keine Fußballfans, Pendler oder Schüler auf dem Weg nach Hause sind im Fernverkehr anzutreffen. Hier und da ein paar Geschäftsreisende, die lieber den Zug nehmen als den Flieger, die das Auto, aus ökologischen Gründen oder weil sie ihren Führerschein verloren haben, stehen lassen, ansonsten Reisende, die in die Ferne fahren, um Neues zu entdecken oder von einer langen Tour zurückkehren. Sie, die Reisenden oder das Bild, was ich von ihnen habe, lassen mich warten, auf den Fernverkehr warten.

Vielleicht ist das zu romantisch, ist mein Bild des Reisenden überholt? Noch in den Achtzigern und Neunzigern gab es ihn, den Reisenden, der in die Fremde fuhr, um zu entdecken. Tagelang war er unterwegs, musste umsteigen, das Verkehrsmittel wechseln. Auto, Bahn, Flieger und am Ende das Schiff, um die Insel am äußersten Rand der Welt zu erreichen. Man las den Lonely Planet und ein paar Reiseberichte, die man in der Bücherei gefunden hatte, stöberte in Karten, suchte Erfahrungsberichte in Magazinen und Zeitungen. Die Fragen? Gibt es noch diese Fähre über den Fluß, der im Reiseführer beschrieben wird oder ist sie längst eingestellt? Existiert das Backpacker Hostel an der Grenze zu Pakistan noch? Man hätte sich doch einen aktuelleren Plan holen sollen. Na klar, macht man sich sorgen. Das gehört dazu. Der Reisende ist Abenteurer, ein Indiana Johns mit InterRail Ticket. Heute scheint dieser Reisende verloren. Mittlerweile ist man in wenigen Stunden überall. Morgens bucht man nach Bankok, Nachmittags sitzt man im Flieger, abends trinkt man in der Szene-Bar sein thailändisches Bier und bereitet sich auf die Full Moon Party in der Nacht vor. Wenn die Buslinie 43 von Novokusnek nach Novosibirsk eingestellt wird, weiß man das zeitnah, weil ein Fahrgast, die Infos schon längst ins Netz gestellt hat. Der entlegenste Zipfel ist entdeckt, mit der Google App geht man durch die heißeste, sandigste, also staubigste Wüste und weiß hinter der nächsten Sanddüne den Kiosk mit dem lokalen Pinkus Bier aus der Heimat. Und einen Poetry Slam, den gibt es sicher auch dort hinter dem Hügel. Drei Sterne hat er im Szeneportal bekommen. Reiseführer auf Papier? Nur noch als Brennstoff für das Lagerfeuer in den Rocky Mountains brauchbar. Über jede Region hat schon jemand einen Text geschrieben, Fotos gesendet, Fahrpläne geteilt. Überall ist man verbunden mit der Welt. Der Globetrotter Blog? Langweilig.

Mein Telefon schellt. Es ist Mutter.
„Wo steckst du, Junge?“
„Mutter, ich bin in Yakutsk. Der Empfang ist gerade schlecht.
Junge, kommst du am Sonntag? Oder hast du wieder eine deiner blöden Ausreden?
Mutter, ich bin in Sibirien.
Ja. eine deiner blöden Ausreden. Und kommst du am Sonntag?
Das Telefonat bricht ab, weil ich auflege, nicht weil ich am Ende der Welt auf Reisen bin. Das Ende der Welt ist für mich bei meiner Mutter an der Kaffeetafel, sicher nicht in Sibirien. Im tiefsten Münsterland ist das Handy Netz oft schlechter als am sogenannten Ende der Welt.

Aber ich schweife ab. Heute nicht das Ende der Welt. Heute Osnabrück. Naja, für ein paar Münsteraner ist das schon fast Sibirien. Gleis 2. Ich warte auf dem IC Hamburg – Stuttgart, der stündlich hält. Wer bin ich? Ich bin Reisender, Abenteurer. Ich fahre IC. Mit mir nur zwei Männer auf dem Bahnsteig, vielleicht Ende Dreizig, scheinbar Südeuropäer, Araber oder Perser, jedenfalls dunkle Haare und Haut. Sie tragen Trainingsanzug, Sportschuhe und Reisetasche. Einer raucht. Beide haben die Wappen von Fußballvereinen auf der rechten Brustseite ihrer Trainings-Jacke. Einer trägt Bayern München, der andere einen ausländischen Sportverein, den ich nicht kenne. Wenigstens haben sie nicht den Sponsor des Vereins mit auf der Brust. Wie bei den Fußball-Trikots, die der Fan auf Wochenende ins Stadion oder der Fußballkneipe trägt. Das fand ich schon immer blöde. Werder Bremen, eine Mannschaft, die ich anfeuere, wenn ich mal Fußball schaue (ich bin diese Art von Fußballfan, der einfach immer für den Schwächeren ist. David gegen Goliat) hat als Werbepartner Wiesenhof, den Küken Zerschredderer. Zehntausende Fans tragen jeden Samstag das Wiesenhof Logo auf ihrer Brust und sagen auch damit, dass sie es in Ordnung finden, wenn die armen Küken geschreddert werden. Ne, sagen sie nicht, sagt jetzt so mancher, weil es damals schon Proteste gab. Aber es wirkt von außen so.
Wenn ein Außerirdischer Bremen Fans von der Ferne betrachten würde, könnte er es denken. Nun, glücklicherweise gibt es keine Außerirdischen. Jedenfalls glaube ich nicht daran. Und in Münster. Der Heimat. In Münster trägt man das Logo eines Personalvermittlers. Personalvermittler klingt schön. Menschlich. In Wirklichkeit vermieten sie Arbeitskräfte an Firmen, die keine Lust haben, sich fest Personal an die Hacken zu binden. Ne, dann lieber für zwei Monate Personalvermittlung und danach kann man den Arbeiter wieder aussortieren. Wie die Küken bei Wiesenhof aussortieren, ab in den Zerschredderer. Moderner Sklavenmarkt. Wie beim Fußball. Dort hat sich ganz offen ein Sklavenmarkt, sprich Transfermarkt gebildet. Nur die Fußballer verdienen mehr, als die armen Zeitarbeitskräfte, deswegen ist das okay. Für eine Millionen ist jeder gerne einmal Sklave.
Ich schweife wieder ab. Hier zwei Männer ohne Werbepartner, aber Vereinswappen. Was machen die beiden? Wo wollen sie hin? Fußballspieler? Soldaten auf Heimaturlaub? Oder Patienten einer Reha Klink auf dem Weg nach Hause? Ich entscheide mich für Soldaten. Ist mittlerweile ein sicherer Beruf. So ein Soldatenleben das ist lustig, so ein Soldatenleben das ist schön. Wenn man heute Pazifist ist, muss man aufpassen, nicht als asozial zu gelten.

Jetzt endlich: Der Zug fährt ein. Gleis 2. Intercity Richtung: Stuttgart. Fahrradmitnahme reservierungspflichtig, Bordbistro vorhanden. Heute in umgekehrter Wagenreihenfolge.
Im Zug eine Frau, die hektisch versucht die Tür zu öffnen. Angst, dass man mit ihr weiterfährt. Sie guckt nervös nach links und rechts. Sie ist eine Anfängerin als Reisende. Ein Schaffner kommt, beruhigt sie. Das dauert, bevor die Türen sich öffnen, sagt er. Er lächelt. Sie glaubt ihm nicht, rüttelt weiter an der Tür. Er lächelt immer noch. Dann öffnet sich die Zugtür. Die Frau schmeißt ihre Habseligkeiten aus dem Zug. Bloß raus, steht in ihrem Gesicht. Und nicht nur sie steigt aus. Überall strömen Menschen aus dem Norden aus dem Zug. Mancher mit mehrere Koffern, mancher nur mit einem kleinen Rucksack. Ich warte, bis der letzte ausgestiegen ist und springe selber mit einem sportlichen Satz in den Zug (eine Lüge), suche mir einen Platz, gucke, beginne zu schreiben. Nur eine Station. 25 Minuten. Aber trotzdem: Ich bin ein Reisender, einer der letzten Abenteurer. Der Weg ist das Ziel, auch wenn der Weg sehr kurz ist. Dann bin ich zu Hause. Oder fast.