Kein Euro, kein Einkaufswagen. Kein Einkauf. Ich schleiche durch die Gänge, hoffe, dass mich das Personal nicht erwischt oder ein Kunde sich beschwert. In dieser Filiale bespuckte man sich letztens, da die Hausregeln verletzt wurden. Das Shopping Erlebnis 2020 ist ein anderes geworden. Mit hohen Puls und außer Atem erreiche ich fast ungesehen die Supermarkt Kassen.

In meiner Schlange vor mir eine Frau, Mitte Vierzig, mit ihrem ungefähr zwölfjährigen Sohn. Sie tragen zu ihren „Face Shilds“ Saunaschuhe, Tennissocken und eingelaufene Trainingsanzüge. Armut ist nicht unsichtbar. Ich schäme mich für den Gedanken und frage mich, warum ich mich für den Gedanken schäme? Weil ich bei Mutter und Kind eine wirtschaftlichen Schieflage vermute? Das und für die weiteren Klischees vielleicht, die man mit sich rumträgt? Meine persönliche Klischeewolke an Kasse Vier: Drei weitere Kinder. Alleinerziehend. ALGII. Cola, Chips, Burger King und Taco Modemarkt. Boxspring Bett und Pommes Fritteuse. Sie hat sich mit achtzehn Jahren schwängern lassen, der Vater ist noch vor der Geburt ihres ersten Kindes (Bruce Bronko) abgehauen. Danach gab es weitere Versuche, Trennungen, Schulden, Tränen und sogar Spuren von Gewalt.[BALKONGESCHREI: „Sie sollten sich wirklich für ihre Vorurteile schämen.“EMPÖRUNG: „Tatsächlich stand die Quantenphysikerin Deberta Zweiholz vor Ihnen, die ihren zwölfjährigen Wunderknaben an der Geige, den Josef, für seine letzte Komposition ein Eis versprochen hatte.“ „Wirklich? Also… Das tut mir leid.“ „Gelogen.“ Was?“ „Idiot“]

An der Kasse verliere ich das Interesse an meinen Vorurteilen. Ich muss mich aufs Bezahlen konzentrieren. Ich habe eine neue EC Karte und kann mir noch nicht die PIN merken. Jetzt habe ich mir einen Spickzettel ins Portemonnaie geklebt. Sehr schlau, ich weiß. Köpfchen und Klischee.

Beim Bäcker gegenüber ein Hinweis, dass man lieber mit Karte bezahlen soll. Geld geht durch viele Hände, auch ungewaschene. Wenn ich vorher auf meine Münzen niese, gefährde ich die Mitarbeiter der Bäckereifiliale. Das will man nicht, deswegen lieber Karte.

Die Verkäuferin guckt wie immer. Ganz offensichtlich findet sie es nicht gut, dass sie arbeiten muss, während ich mir Brötchen kaufe. Sie würde sich auch gerne ein Brötchen kaufen, aber sie muss ja arbeiten, steht in ihrem Blick. Wie groß ist ihr Freude, als ich vier helle Brötchen haben möchte. „Helle sind aus“, sagt sie. Ich bestelle dunkle Brötchen, die noch da sind – ausgetrickst, denke ich – und will kontaktlos bezahlen. Genervt muss sie das Lesegerät freischalten. Solche Kunden kann sie gebrauchen. Sie verzieht das Gesicht beim Freischalten ihres Lesegeräts. Dunkle Brötchen. Sie würde sich auch gerne ein dunkles Brötchen kaufen. Meinen Abschiedsgruß erwidert sie schon gar nicht mehr.