MUTTER

Bei meiner Mutter im Haus ist ein Nachbar gestorben. Der Herr Jonas. Herr Jonas und Mutter hatten nie ein besonders persönliches Verhältnis zueinander, eigentlich hatten sie gar kein Verhältnis zueinander. Nach dreißig Jahren unter einem Dach, solange wohnt meine Mutter schon in dem Haus (Herr Jonas wohnte dort schon, bevor es mich gab, also vor einer für mich relevanten Zeitrechnung), also nach einem halben Raucher- Menschenleben unter einem Dach beschränkte sich das soziale Miteinander bei Mutter und Herrn Jonas auf ein Grüßen im Treppenhaus oder ein Kopfgenicke auf dem Garagenhof. Ich glaube, wenn sie sich mal außerhalb der Nachbarschaft sahen, versuchten sie sich zu übersehen. Einmal begegneten meine Mutter und ich Herrn Jonas in der Innenstadt. Ich wollte gerade meiner Mutter sagen, dass dort Herr Jonas ist, da war sie aber schon verschwunden. Sie hatte sich hinter einer Häuserecke versteckt, damit man sich nicht unnötiger Weise grüßen oder sogar noch miteinander reden musste. „Ist zwischen euch was vorgefallen“, fragte ich, nachdem ich sie in ihrer dunklen Ecke gefunden hatte. „Rede nicht so ein Blödsinn“, sagte Mutter hinter ihrer Häuserecke. „Oh, guck mal ein Kaufhaus“, windete sie sich hinter ihrer Ecke her, “Wir sollten …”, sie zog mich am Ärmel runter von der belebten Straße. „Socken kaufen.” „Socken?“, fragte ich, baff der rhetorischen Finnesse meiner Mutter. „Socken“, sagte sie mit Nachdruck. Also kauften wir Socken, da man dadurch ein Gespräch mit Herrn Jonas aus dem Weg ging und man Socken immer gebrauchen konnte.

Jetzt ist der Herr Jonas gestorben. Meine Mutter hat es mir am Telefon gesagt. Woran weiß sie nicht, aber sie muss noch eine Karte schreiben, ihre nachbarschaftliche Pflicht erfüllen. Das ist meiner Mutter wichtig, die Pflicht erfüllen. Es gibt noch weitere Nachbarn, die sonst reden. Sie tuscheln, wenn man nicht seine Pflichten erfüllt, zu laut Musik hört, vergisst das Treppenhaus einmal die Woche sauber zu halten, den Hof nicht fegt, die Nachbarn nicht grüßt, den Müll nicht trennt, das Unkraut sprießen lässt, den Keller nicht aufräumt, das Licht brennen lässt, die Fenster nicht putzt oder auch noch Wannen voller Schlüpfer im Gemeinschaftsgarten an der Wäschespinne trocknet und dazu noch aussieht, als ob man sich gar nichts leisten kann, vor allem keine Waschmaschine.  Sie tuscheln und ist der Ruf erst einmal ruiniert, lebt es sich in der Nachbarschaft meiner Mutter ganz sicher nicht ungeniert. Ne, dann kann man sehen, wo man bleibt, sagt Mutter.  In dieser Nachbarschaft bleibt man nämlich ganz sicher nicht, wenn man nicht weiß, was Nachbarschaft und Pflicht heißt, erklärt sie mir.

Und meine Mutter, sie ist nun Mitte Siebzig, will nicht auf der Straße sitzen und betteln.  Weil auf ihren Sohn muss sie ja nicht zählen. Da weiß sie, womit sie zu rechnen hat und womit nicht. Sicher nicht mit Hilfe. „Apropos Hilfe, kannst du mir eine Karte schreiben und vorher kaufen und einwerfen und dann sollte es aber auch gut sein, mit den Nachbarn, dem Herrn Jonas. Dann hat man doch seine Pflicht erfüllt?“, fragte Mutter am Telefon. Ich nickte. “Was”, fragte Mutter, da man mein Nicken nicht durchs Telefon sah. Ich nickte also laut und Mutter nickte auch laut und fragte am Ende des Telefonats, ob ich mir zu Weihnachten nicht ein paar Socken wünschen würde. Es war Frühjahr, April, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass ich mir Weihnachten ein paar Socken wünschen würde. So nickte ich noch einmal durchs Telefon, nickte laut und legte auf.

Herr Jonas ist tot. Aber Mutter hat gemacht, was man machen muss. Die Pflicht erfüllt. Den Rest mache ich. Dafür gibt es Socken. Sie hat sich nichts vorzuwerfen. Sie ist aber auch nicht gestorben.