Ein merkliches Abnehmen des gesunden Menschenverstands und ein merkliches Zunehmen von Aberglauben und Leichtgläubigkeit deuten daher immer darauf hin, dass die Gemeinsamkeit der Welt innerhalb einer bestimmten Menschengruppe abbröckelt, dass der Wirklichkeitssinn gestört ist, mit dem wir uns in der Welt orientieren, und dass daher die Menschen sich der Welt entfremden und begonnen haben, sich auf ihre Subjektivität zurückzuziehen.“ (Hannah Arendt, Vita activa, S. 265)

Herr Hoffmann steht hinter seiner Theke und sortiert Briefmarken. Schon länger ist sein Kiosk auch Poststelle, was Herrn Hoffmann das Recht gibt, Briefmarken zu verkaufen und Pakete annehmen. Paket Paul, Stammkunden und sowas wie ein Freund, holt dann im Laufe des Tages die Pakete ab. Paket Paul hat auch erst dafür gesorgt, dass das Büdchen Poststelle wird. „Da kannst du noch eine Mark extra machen, Herr Hoffmann“, erklärte ihm damals Paket Paul.

Vor der Theke steht Herr Ärmel und redet mit Händen und Füßen auf den Kiosk Betreiber ein. Früher kam Herr Ärmel immer donnerstags zum Lottospielen, aber mittlerweile steht auch Herr Ärmel wenigstes einmal pro Tag im Büdchen, um zu quatschen. Gerade regt sich Herr Ärmel über die Wahlen im September auf. Er weiß nicht mehr, was er wählen soll, sagt er. Das erste Mal ist er wirklich ratlos.

„Ich fühle mich ohnmächtig. Es gibt auch keinen Raum mehr, wo man miteinander redet, diskutiert, zusammen handelt. Eine echte Öffentlichkeit. Natürlich informiere ich mich, aber es gibt kein Austausch, Herr Hoffmann.“

„Das Internet?“, schlägt Herr Hoffmann vor. „Ist das Internet kein Raum, wo man sich einmischen kann? Das wurde doch immer gesagt.“

Herr Ärmel verzieht das Gesicht. „Das Internet?“ Er lacht. „Im Internet kriegst du das zu hören, was du hören willst. Wenn man sich für die Monarchie ausspricht oder für Sex mit Tieren, bieten dir die Algos Monarchie oder Sex mit Tieren an.“

„Algos?“

„Also, Herr Hoffmann, wirklich?“ Herr Ärmel guckt belustigt. „Algos sind Algorithmen. Aber ich rede von echter Öffentlichkeit und von Gemeinsinn. Ich habe das Gefühl, dass die letzten Monate den letzten Funken Gemeinsinn kaputt gemacht haben.“

Herr Hoffmann schiebt die Briefmarkenbögen, 80 Cent Marken mit 250 Jahre Ludwig van Beethoven, zur Seite. Er hatte eigentlich das Gefühl, dass gerade momentan viel über Solidarität und Gemeinsinn in den Zeitungen geschrieben wird. Erst gerade gab es noch eine große Flutkatastrophe und viele Menschen haben gespendet und geholfen.

„Ja, weil sich die Menschen gut fühlen, wenn sie helfen, Aber das hat doch nichts mit Gemeinsinn zu tun. Das ist Mitleid,“ verbessert Herr Ärmel. „Gemeinsinn, zusammenkommen und zusammen handeln, heißt doch nicht, dass man abends zusammen einen Trinken geht oder ins Kino. Wir sind doch mehr als kluge Ameisen, die nach getaner Arbeit, ihre Kräfte beim Essen, auf dem Sofa oder beim Feiern wieder sammeln, um am nächsten Tag weiter zu schuften. Wirklich-sein ist nicht das Gleiche wie Lebendig-sein, Herr Hoffmann.“

„Wirklich-sein?“, fragt Herr Hoffmann.

„Wirklich-sein heißt zu wirken, Spuren zu hinterlassen. Wenn du nur zu Hause rumsitzt, kannst du noch so klasse Ideen oder Gedanken haben, du wirst nichts hinterlassen, keine Geschichte. Hinter deiner Wohnungstür sieht dich keiner.“

„Das ist Hannah Arendt -Zeugs, oder?“, fragt Herr Hoffmann vorsichtig.

Herr Ärmel nickt. „Ja, gut geraten Herr Hoffmann. Aber vor allem ist es richtig. Wir brauchen wieder einen öffentlichen Raum, wo wir zusammenkommen und miteinander reden, und ich rede nicht von Geschwafel, sondern wirklich miteinander reden. Zum Beispiel über die nächsten Wahlen und den Zustand unserer Demokratie.“

Herr Hoffmann guckt auf die immer gleichen Briefmarken. Herr Ärmel hat sicher Recht mit seiner Kritik, aber auch der Kiosk Betreiber ist kein großer Redner. Meistens lässt er die anderen reden und hört lieber zu.

„Herr Hoffmann, ich weiß, was du gerade denkst. Bei dem meisten Unsinn höre ich auch weg. Zum großen Teil labern die Menschen nur, und daran muss ich mich auch nicht beteiligen.“

Herr Hoffmann will noch einmal in Ruhe über Herrn Ärmels Worte nachdenken. Außerhalb der Öffentlichkeit hinterlässt man nichts. Hinter den eigenen vier Wänden bleiben die Worte und Taten ohne Folgen. Es bleiben keine Geschichten zurück. Aber bleiben sie in der Öffentlichkeit zurück? Werden die Taten, die Reden des Einzelnen in der Öffentlichkeit unsterblich? Ist der öffentliche Raum immer noch der Ort, der Unsterblichkeit produziert? Was heißt das überhaupt: Unsterblichkeit? Öffentlichkeit? Geschichte?

Es dreht sich wieder alles in Herrn Hoffmanns Köpfchen, in seinem Denkerstübchen. Er mag das Gefühl. Und vielleicht sollte er auch noch mal die Arendt lesen. Sie hat viel Spannendes vor fünfzig Jahren niedergeschrieben und gerne würde er sich mit Herrn Ärmel weiter über Hannah Arendts Theorien austauschen. Leider geht genau in diesem Moment das Türglöckchen und Herr Hoffmann muss sich wieder seiner Notwendigkeit, seiner Arbeit widmen.