Herr Hoffmann steht hinter der Theke und liest ein Buch über zwei Kinder, die in ihren Sommerferien von zu Hause abhauen. Eine Kundin hat es ihm empfohlen. Es ist spannend. Herr Hoffmann wäre als Kind gerne so frei, so mutig gewesen, einfach abzuhauen. „Und es wird nicht leichter mit dem Abhauen“, denkt Herr Hoffmann beim Lesen. Wenn nicht gerade Kunden im Büdchen sind, kann sich Herr Hoffmann kaum von der mittlerweile als Taschenbuch herausgegebenen Ausgabe losreißen.

Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass vor seinem Laden ein Stammkunde steht und ihn beobachtet?

Nichts würde er sagen. Vielleicht würde er sich ein wenig wundern, aber ansonsten weiter lesen, da das Buch mit Sicherheit spannender ist, als jede Überraschung, die hinter dem Spanner steckt.

Ja, und tatsächlich ist es auch gar kein Spanner. Es ist Herr Ärmel. Der Herr Ärmel, der wöchentlich bei Herrn Hoffmann seinen Lotto Schein abgibt und kurz mit dem Büdchen-Verkäufer von der Lotto-Millionen träumt.

Herr Ärmel hat sich gerade festgeschaut. Er schaut durch das Fenster von Herrn Hoffmann auf eine Flasche Orangensaft. Aber höchstwahrscheinlich sieht Herr Ärmel auch die Flasche Saft gerade gar nicht. Herr Ärmel hat einen Gedanken, eine Idee, eine Eingebung und wenn er so einen geistigen Höhenflug erlebt, genießt er ihn an Ort und Stelle.

Herr Ärmel ist kein seltsamer Mann. Herr Ärmel ist nur viel alleine und da gewöhnt man sich Sachen an, die in Gesellschaft nicht unbedingt angebracht sind, dort seltsam wirken. „Herr Ärmel ist auf jeden Fall ein seltsamer Mann“, sagen manche seiner Nachbarn. Frau Jacob hat es ihm erzählt. Sie ist auch eine Nachbarin, aber auch eine Freundin. Sie helfen sich gegenseitig mit dem Garten.

Herr Ärmel hat früher mal als Architekt gearbeitet. Später hat er dann in die Öffentliche Verwaltung gewechselt, Bauordnungsamt. Er nahm sich immer dicke Bücher mit ins Büro und meistens hatte er Zeit, sie zu lesen. Und wenn er nicht las, grübelte er. Das Amt hat ihn dazu gemacht, denkt er manchmal. Aber eigentlich hält er nichts von Schuldzuschreibungen. Eigentlich ist Herr Ärmel ein glücklicher Mann. Einsam, aber glücklich.

Und manchmal denkt er, Herr Hoffmann ist auch so einer, so ein Seelenverwandter. Und wenn er das denkt, fragt er sich, was das denn überhaupt ist, so eine Seele und verfällt wieder ins Grübeln.

„Hallo Herr Ärmel“, sagt Student Lukas, der gerade um die Ecke kommt und klopft Herrn Ärmel auf die Schulter. Herr Ärmel schreckt hoch. „Ah, Lukas. Hast du mich erschreckt“, sagt er zum Büdchen Stammkunden und studentischen Besserwisser. Lukas grinst. „Entschuldigung.“ „Alles gut“, sagt Herr Ärmel, dreht sich um und geht seiner Wege.

Lukas schaut ihm hinterher. „Ein seltsamer Mann. Fast wie unser Herr Hoffmann “, denkt er und betritt das Büdchen.