Bahnhof Münster – Tor zur Welt

Mit der Eurobahn von Münster. Dreizehn Euro Siebzig für eine halbe Stunde Fahrt, Bahn Card Nutzung nicht möglich, da Verkehrsverbund. „Warum habe ich diese blöde Bahn Card überhaupt“, schimpfe ich mehr leise als laut. Im Zug Menschen in dicken Winterjacken, selbstgestrickten Schals und hippen Puddelmützen, auf dem Boden ein Teppich aus Matsch und in der Luft ein Aroma zwischen Schweiß und Pups. Für mich gibt es noch einen Platz zwischen WC und Ticketautomat. Eine ältere Dame guckt mich erwartend, ja fordernd an. Sie erwartet, ja fordert, dass ich ihr meinen Platz anbiete. Doch ich widerstehe: Man muss auch mal nein sagen können. Einfach mal wegschauen. Mutter sagt immer, Freundlichkeit macht nicht satt.

Also Klappsitz runter, Handy raus, Daumen drauf. Über mir ein Schimpfen einen älteren Dame, doch heute kann ich abschalten. Da eine Kurznachricht auf meinem Smartphone. BILD sagt: Wieder keine weiße Weihnacht. Ist das der Klimawandel? Kühles Bier statt heißem Glühwein? Mutter sagt: Damals hat es immer im Winter geschneit. Nicht so wie heute. Die Kinder kennen ja gar kein Schnee mehr. Die Kinder kennen sowieso gar nichts mehr. Außer Fernsehen und Gewalt.

Nächste Station Haltern am See. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Haltern am See: Tor ins Ruhrgebiet. Mancher erinnert sich: Vor ein paar Jahren das Flugzeugunglück. Ein Selbstmörder steuert eine Boing gegen die Alpen. In dem Flieger eine Schulklasse aus der Gegend. Abifahrt nach Barcelona. Man besuchte La Rambla, die Sagrada Família und die Fußballfans Camp Nou, Messis Heimatverein. BILD schrieb: Der Pilot war depressiv. Eine ganze Stadt trauert, ein ganzes Land trauert.

Wikipedia lehrt, ein Selbstmord ist entweder aktiv, passiv oder aktiv erweitert. Bei einem aktivem erweiterten Selbstmord nimmt man noch weitere Personen mit. Zum Beispiel: Ein kranker Katholik, der sich in einem Beichtstuhl während der Sonntagsmesse kurz vor der Kommunion in die Luft jagt und hierbei ein Rudel gläubige Christen mit ins Paradies nimmt, begeht einen aktiven erweiterten Selbstmord. Ein geisteskranker Diktator, der sich tot hungert, weil seine Hauptdirne verstorben ist und sein Volk gleich mit verhungern lässt, einfach kein Brot mehr gibt, begeht zum Beispiel passiven, erweiterten Selbstmord.

Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen“, sagte Marie Antoinette. Diese Worte der berühmten französischen Königin haben nichts mit Selbstmord und Haltern am See zu tun, sind mir aber gerade in den Sinn gekommen. Er, der Satz, ist aber eine Fake News. Historiker sagen, sie hat das nie gesagt. Mutter sagt, glaub nicht alles, was du liest. Ne, glaube ich nicht.

Haltern am See. Tor ins Ruhrgebiet oder Tor ins Münsterland. Das ist ja Ansichtssache. Das kommt auf die Perspektive an, also Richtung. So spricht der Bochumer vom Tor zum Münsterland, der Münsteraner vom Tor ins Ruhrgebiet. Im Sommer ein großes Zusammentreffen und Begucken. Wer kein Geld für Nord-, Ost- oder Bodensee hat, schwimmt gerne ein paar Bahnen im Haltener See. Hier trifft Bergbau auf Schweinemast, Zeche auf Acker. Am See ähnlich viele Münsterländer wie Menschen aus dem Revier. Man gafft und staunt über die Kultur des Anderen: „Hast du den gesehen?“ „Ja, so was aber auch.“ „Sowas sieht man bei uns ja nicht“ „Ne, er in Tigerbadehose und die Alte dackelt demütig mit ihren Gören ein paar Meter hinter ihrem Macker her.“ „Ja, fünf Gören hatte die, die Jüngste vielleicht acht. Und alle am Rauchen.“ Man lästert und lächelt. Auf beiden Seiten.

Ein Bekannter eines Freundes kennt jemand, der hier wohnt. Jeden Tag pendelt der nach Münster. Arme Sau, denke ich, als ich in Haltern am See aussteige. Aber im Sommer ein See vor der Haustür. Man muss sich das Glas halbvoll vorstellen, nicht halbleer, dann geht es. Münster Marketing sagt: Münsterland, Toscana des Nordens. Das ist mal ein halbvolles Glas.