Statt Ortschild ein kaputter Condomat. Coerde wächst überproportional im Vergleich zu den anderen Stadtvierteln.

Du gehst nice auf Techno Party und ich gehe wandern. Heute in Coerde. Ein Stadtteil im Norden Münsters. Meine Mutter wohnt in Coerde, braucht ihre Medikamente. Bei Doktor Anzeichener soll ich das Rezept abholen, in der Stadtteil -Apotheke gleich einlösen.

In Coerde ist es immer ein wenig kälter als in den anderen Stadtteilen. Das ist die soziale Kälte, sagen die Münsteraner:innen, die sich eine Bleibe in der Innenstadt durch richtige Berufswahl, Erbschaft oder einfach Glück erschleichen konnten.

Ich bin sogar in Coerde zur Schule gegangen. Nicht selten war die Tupperdose leer, bevor ich die sichere Schule erreichte. Das waren dann die Kinder aus Alt Coerde. Die schlimmsten, die miesesten Kinder kamen aus einer Familie. Die Familie war so berüchtigt, dass unsere Eltern sogar vor ihnen zitterten. Mein Papa wäre nie im Dunkeln nach Alt Coerde gegangen. Einmal bat ich ihn, mich frühabends vom Spielen abzuholen. Ich war bei einem anderen Schüler aus meiner Grundschule, Michael aus der Igel Klasse, auf den Geburtstag eingeladen. Aber mein Papa meinte, ich würde schon alleine nach Hause finden, er sei doch nicht lebensmüde und Kindern tun die nicht so schnell was. “Ach Papa”, dachte ich damals, “Du Schisser.”

Ich dagegen hatte sogar einen aus dieser krassen Familie in meiner Klasse. Den Erich.

Erich lernte ich allerdings erst in der Vierten kennen. Erich war nämlich sitzengeblieben. Schon zweimal. Als ich nach der Vierten die Grundschule verließ, hatte Erich das Schuljahr wieder verkackt. Aber die Schule wollte ihn auch nicht mehr, und so ließ man ihn ziehen.

Erich. Er soll es bei der Bundeswehr versucht haben. Oder noch Härteres. Pazifist war er jedenfalls nicht. Ich aber. Soweit man in Coerde Pazifist sein kann (damals lernte ich, dass es verschiedene Arten von Pazisfismus gibt). Jedenfalls wollte ich so jemandem wie Erich nicht als Feind haben und prügeln wollte ich mich sowieso nicht, und so habe ich Erich Schutzgeld bezahlt. Nicht viel. Er sagte, es wären kleine Freundschaftsgeschenke, aber es war Schutzgeld. Hier man eine Ernte 23 vom Opa. Hier eine Reval von der Oma oder HB von Mama. Meistens brachte ich ihm Zigaretten mit. Andere Alkohol. Einer soll ihm sogar ein Mädchen gebracht haben, von der Hauptschule gegenüber. Sie hat Erich auf dem Mund geküsst. Erich.

In den Pause kümmerte sich Erich um seine Freunde. Niemand sollte seine Freunde anrühren. Erich nahm seine Aufgabne serhr ernst. Nur die anderen Schüler:innen schikanierte er. Nur meine Mitschüler:innen quälte, beleidigte, haute er. Nur ihnen fügte er Schmerzen zu oder drohte damit, sie oder ihn nachts zu holen, in den Wald zu zerren und sie an einem Baum zu fesseln. Erich. Ach Erich.

Wir glaubten ihm alle. Ohne Zweifel würde er das machten. Wir waren in Coerde. Das war Erich. Sogar mein Vater meinte, ich sollte jetzt mal nicht extra Streit suchen. Häh, extra Streit suchen. Papa?

Ein paar Jahre später lese ich in der WN einen Artikel über durchschnittliche Schulabschlüsse in den einzelnen Stadtvierteln Münsters. Wer in Coerde aufwächst, hat es am Schwersten, steht da.

Ich bin schon ein wenig stolz. Ich hab es geschafft. Ich bin aus dem Viertel rausgekommen. Aber heute, wenn ich zu Besuch bin, drehe ich mich immer noch vorsichtig um, horche, schwitze. Habe Angst. Vor Erich.