Heute war ich wandern. Ohne Ziel. Das ist doch gerade das Schöne beim Wandern: Kein Ziel haben. Heute bin ich ohne Ziel durch Münster gewandert.

Münster zeigt gerade Solidarität. In Münster-Sprech: Münster zeigt Farbe. Überall wehen ukrainische Flaggen. Blau & gelb wohin man schaut. Aufkleber auf Windschutzscheiben, mit Fingerfarbe auf Kinderzimmerfenstern, auf Bettlacken mit Botschaft: Putin go Home. No War. Kein Krieg, No more war. Nie wieder Krieg. Je suis Ukraine. Wir sind Ukraine. Solidarität mit der Ukraine. Frieden. Dazwischen immer wieder gezeichnete Friedenstauben und Plakate, die auf Soli-Konzerte hinweisen. Wir spenden für die Ukraine. Wir sammeln. Wir helfen. Wir spielen. Wir musizieren.

Einen kurzen Moment sehe ich nur noch blau-gelb. Wie das Sternchen Sternchen, wenn ich morgens zu schnell aufstehe. Aber das geht immer schnell wieder weg .

Trotz meiner Sternchen: Hat da nicht jemand die blaue Papiertonne extra neben die gelbe Tonne gestellt? Oder hier: Die Osterblumen und diese blau-grünen Knospen. Das ist doch kein Zufall? Wer denkt dort nicht an den Krieg? Oder auch gesehen: Viel mehr Menschen tragen gerade blau- gelb. Das ist doch nicht alles Mode? Der Schal, die blau-gelben Socken. Das bilde ich mir doch nicht ein. Ne, ne. morgens im Halbschlaf entscheiden sich die Menschen für Solidarität mit dem Nachbarn.

„Entschuldigen Sie, junger Mann. Entschuldigung.“

Ich bin in den Achtzigern sozialisiert worden. Die Friedensbewegung mit ihren Ostermärschen und den Demos gegen die Atomkraft habe ich noch von der Seitenlinie miterlebt. Aber immerhin schon miterlebt. Petting statt Pershing fand ich super. Später habe ich verweigert und anderthalb Jahre Zivildienst geleistet. Das war eine wertvolle Zeit. Ich brauchte allerdings, um das zu erkennen. Das mit der wertvollen Zeit. Anfangs fand ich den Zwangsdienst vor allem anstrengend. Aber es war wertvoll. Rückblickend. Eine wertvolle Anstrengung.

„Junger Mann! Entschuldigung.“

Über ein paar weitere Banden und Ecken bin ich Pazifist geworden. So ein Echter, der lieber erst mal, über hundert Milliarden Euro reden möchte, und dann auch nur vielleicht aufrüsten oder meinetwegen ausrüsten.

Pazifismus hat viele Gesichter. Mein Pazifismus schließt Gewalt nicht aus, da Selbstverteidigung oft kein bewusstes Handeln ist. Eher ein Reflex. Wenn Flucht nicht mehr möglich ist, greift das in die Ecke gedrängte Tier an. Mein Pazifismus schließt Krieg als Mittel der Politik aus. Nicht ultima ratio. Ultima irratio. Das ist von Willy Brandt. Zwei Monate nach meiner Geburt hat er den rausgelassen.

Ansonsten: Reden. Labbern. Zeichen setzen. Nicht provozieren. Deeskalieren. Nicht drohen. Wer die ganze Zeit den Mund auf hat, schießt nicht. Na, ob das wahr ist? Vielleicht weil er am futtern ist. Wer futtert schießt schief. Oder?

Es ist nicht leicht, auf das Leid des direkten Nachbarn zu schauen und ruhig zu bleiben, nicht zu drohen. Syrien empfanden wir durch die Bilder und Videos auf Facebook, Instagram und Co schon als sehr nah. Ein Aufschrei, echte Tränen, echtes Mitleid kam mit den ertrunkenen Flüchtlingskinder an griechischen Stränden. Heute: Die Einkaufsstraßen in Kiew sehen nicht anders aus als die in Münster. Gestern habe ich mir über Google maps Touristenziele in Charkiw angeschaut, später die in den Zeitungen die gleichen Gebäude nur zerstört. Bei einer Rosinenschnecke und Filterkaffee bastelte ich nachmittags Vorher- Nachher Bilder.

Junger Mann! Wenn Sie nicht sofort…“

Ich drehe mich um. „Entschuldigung?“ Hinter mir steht eine ältere Dame. Sie guckt mich mit hochroten Kopf an, zeigt vor mir auf den Bürgersteig.

Ihre alte Kippe“, schreit sie, wedelt hektisch mit ihrem Zeigefinger am Boden herum. Da, eine Kippe.

Aber das ist nicht meine“, sage ich. „Ich bin nicht schuld. Nie. Ich bin Pazifist. Wir wollen nicht schuldig werden.“ Die Frau zeigt mir einen Vogel, geht weiter. Meine Begründung scheint für sie bescheuert. Sie hat ja recht.

Aber wenn wir so miteinander umgehen, flüstere ich und wandere ebenfalls weiter.

In meiner blau-gelben Stadt.